Sie sind hierBericht vom Internationalen Afghanistankongress der Friedensbewegung am 7./8. Juni 2008 in Hannover
Erstellt am 9. Juni 2008 - 23:31
von einer Teilnehmerin aus dem Rostocker Friedensbündnis * Achtung, neu!: Dossier vom Kongress als Beilage zum Neuen Deutschland vom 19.7.08, siehe letzter Link unten Vorab: Der Kongress war aus meiner Sicht eine sehr gelungene Veranstaltung, sowohl konzeptionell als auch organisatorisch. Er war nicht nur der Lage im Land mehr angemessen als die "Geberkonferenz" vom 12. Juni in Paris. Von ihm gehen Impulse aus sowohl für eine Verbreiterung und Intensivierung der Kampagne gegen die Mandatsverlängerung für die Bundeswehr im Deutschen Bundestag als auch für die Internationalisierung der Aktivitäten der Friedensbewegung. Im Einzelnen: Auf dem Eröffnungsplenum am Sonnabend (Programm des Kongresses unter http://www.afghanistan-kongress.de/programm.htm ) ging es einleitend um die Situation in Afghanistan und das Engagement der Friedensbewegung. Dazu sprachen Teilnehmer des Kongresses aus dem Iran, den USA, Afghanistan, Frankreich und Schweden. Bereits hier trat ein Vertreter der Gewerkschaften (Hartmut Tölle, DGB-Landesvorsitzender von Niedersachsen - dem Bundesland, dessen Hauptstadt Hannover ist - und Sachsen-Anhalt) mit einem Grußwort auf. Betont wurde, dass der Krieg in Afghanistan auch nach sieben Jahren noch keine Evaluation erfahren hat. Zurzeit werden neun von zehn Dollar für Afghanistan für militärische Handlungen ausgegeben. Präsident Karsai, den die internationale Militärinvasion stützt, kontrolliert nur 30 Prozent des Landes; der Anschlag auf ihn während einer Militärparade in Kabul beweist, wie wenig selbst auf militärischem Gebiet bisher erreicht worden ist. Konstatiert wurde aber auch, dass Afghanistan gegenwärtig im gesellschaftlichen Diskurs der BRD kein Thema ist, auch nicht in den Gewerkschaften. Unruhe muss ins Land kommen, damit sich etwas bewegt. Fortgesetzt wurde die Arbeit des Kongresses in Arbeitsgruppen. Da, wie aus Diskussionen bekannt, die angeblich verbesserte Lage der Frauen häufig als Argument für den Militäreinsatz herhalten muss, entschied ich mich für "Die Situation von Frauen in Afghanistan / Frauenrechte als Legitimation für Krieg". Dort referierten zwei Frauen, die bereits auf dem Eröffnungsplenum gesprochen hatten: Elaheh Rostami Povey, Iranerin, Wissenschaftlerin an der School of Oriental and African Studies in London, und Zoya, Aktivistin der Revolutionary Association of the Women of Afghanistan (RAWA). Elaheh Rostami Povey hat mit afghanischen Frauen in Afghanistan und in Flüchtlingslagern des Auslands Interviews geführt. Sie ist Autorin des Buches "Afghan Women: Identity and Invasion". Ihrer Erfahrung nach sind die afghanischen Frauen keine passiven Opfer, die Befreiung von außen nötig haben. In der Zeit der Taliban, als sie ohne männliche Begleitung das Haus nicht verlassen durften, haben praktisch alle in ihren Häusern Schulen eingerichtet. "Instead of going mad" (E.R.P.) unterrichteten sie dort ihre Kinder dort in allem, was sie gelernt hatten. Viele der so unterrichteten Mädchen brauchten danach nicht mehr als zwei Jahre bis zum Abitur. Viele Männer unterstützten ihre Frauen und nahmen dafür auch Gefängnis und Tod auf sich. Auch die iranische Frauenbewegung hilft den afghanischen Frauen. Zoya unterstrich, dass die Frauen in Afghanistan unter zwei Arten der Unterdrückung leiden: unter häuslicher Gewalt und Zwangsheiraten einerseits und unter Fundamentalismus und Terrorismus andererseits. In Afghanistan kursiert der Begriff "Opiumbräute": Opiumbauern, die ihre Drogenbarone nicht bezahlen können, werden gezwungen, ihnen ihre Töchter auszuliefern. Die Schulen sind offen, aber die Mütter haben Angst, ihre Kinder hinzuschicken, weil der Schulweg nicht sicher ist. Außerdem ist die Ausbildung mangelhaft, die Lehrer sind unterbezahlt - die hohen Summen aus dem Ausland werden offensichtlich nicht für die Bildung ausgegeben. Damit machte Zoya deutlich, dass die Probleme der Frauen nur ein Teil des Gesamtproblems in Afghanistan sind. Zoya berichtete auch über RAWA. RAWA bekommt heute kaum noch Unterstützung aus Deutschland; bezüglich anderer Länder (USA, Italien) sieht das anders aus. Einen Bürgerkrieg nach einem Abzug der Truppen wollten beide Frauen nicht ausschließen. Es sei aber besser, in diesen Bürgerkrieg zu gehen, als mit dem ständig gleichen Argument eine immer währende Besatzung zu erdulden. Zoya appellierte an die Teilnehmer, die BRD-Politiker zur Beendigung der Unterstützung für die Fundamentalisten aufzufordern, Pressearbeit zu leisten und Afghanistan zu besuchen, um sich selbst von der Situation und den Möglichkeiten dort zu überzeugen. Eine Plenumsdiskussion zum Thema "Deutschland im Krieg" führte die etwa 400 Teilnehmer des Kongresses wieder zusammen. Betont wurde, dass für die offizielle BRD Afghanistan die Gelegenheit darstellt, sich als internationaler Akteur weiter zu etablieren und ihre Rolle in der NATO zu stärken. In der zweiten Maihälfte 2008 fand unter norwegischer und deutscher Führung ein weiterer militärischer ISAF-Einsatz, Operation Karez, statt, über den die deutsche Öffentlichkeit praktisch nichts erfuhr. Norman Paech zitierte aus der Einsatzbeschreibung der deutschen Soldaten, der so genannten Taschenkarte: Dem dort enthaltenen Satz "Der Soldat beachtet die Regeln des humanitären Völkerrechts" ist jetzt die Formulierung "So weit praktisch möglich" vorangestellt worden. Es wurde gefordert, den in der vorhandenen Unwillen gegenüber dem deutschen militärischen Engagement in Afghanistan in konkreten Protest zu übersetzen, um den politischen Preis für die Bundesregierung hochzutreiben. Es wurde darauf hingewiesen, dass sich die soziale Lage auch in den Ländern verschlechtert, von denen der Krieg ausgeht, und dass die Formel vom militärischen Scheitern nicht alles aussagt, denn die Rüstungsindustrie gewinnt in jedem Fall. Der Vertreter von Bündnis 90/Die Grünen musste sich für seine Partei einiges an Kritik von den Teilnehmern im Saal anhören. Das Tagesprogramm beschloss eine Theateraufführung: "Sieben Witwen" vom Weber-Herzog-Musiktheater, das erste Stück über die Beteiligung der Bundesrepublik am Krieg in Afghanistan. Das Stück beschreibt das Denken und Fühlen der Witwen von dort getöteten Bundeswehrsoldaten und diskutiert den Sinn des Militäreinsatzes. Alltagsszenen wechseln mit Liedern zu Texten von Erich Mühsam. Für September ist ein weiteres Stück zum Thema Afghanistan angekündigt: "Die Verteidigung Deutschlands am Hindukusch" von der Berliner Compagnie. Sonntag: Der Sonntag wurde durch ein Plenum zum Thema "Alternativen" eingeleitet. Hier sprachen nach der Begrüßung durch Monty Schädel, den Politischen Geschäftsführer der Deutschen Friedensgesellschaft-Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK), Matin Baraki, Afghane, Politikwissenschaftler an der Universität Marburg, und James Gilligan, Afghanistan-Veteran aus den USA. Matin Baraki stellte die Frage, was in Kabul wieder aufgebaut werde: 5-Sterne-Hotels, Geschäftshäuser, Produktionsanlagen für die Bedürfnisse ausländischer Gäste, "der so genannten NGOs" (M.B.). Afghanistan war Gründungsmitglied der Bewegung der nichtpaktgebundenen Staaten; die Familie seines heutigen Präsidenten handelt mit Drogen. James Gilligan lebt mit der Schuld an der Auslöschung eines afghanischen Dorfes, dessen Koordinaten er unbeabsichtigt als die einer feindlichen Stellung durchgab. Er nannte Zahlen für selbstmordgefährdete Soldaten, die in Auslandseinsätzen waren, und rief eindringlich dazu auf, der weiteren Beteiligung der Bundesrepublik am Krieg in Afghanistan und seiner Unterstützung durch Militärbasen auf seinem Territorium Einhalt zu gebieten. Von den nachfolgenden Diskussionsforen hatte ich "Zivile Konfliktbearbeitung: Alternative oder Ergänzung zu Militär und Krieg" gewählt. Das Podium bildeten Andreas Buro vom Komitee für Demokratie und Grundrechte und Koordinator des Monitoring-Projekts für zivile Konfliktbearbeitung der Kooperation für den Frieden, Wolfgang Gehrcke, Bundestagsabgeordneter und Mitglied des dortigen Auswärtigen Ausschusses, und Hans-Jürgen Hinzer, Sekretär in der Gewerkschaft NGG/Region Rhein-Main. Hier wurden Szenarien für das Danach entwickelt. Das Konzept der zivil-militärischen Zusammenarbeit wurde als nicht eine mögliche Lösung, sondern als das gegenwärtige NATO-Konzept charakterisiert. Wolfgang Gehrcke fragte, warum, wie in diesem Fall, unglaublich kostenintensive Militäreinsätze korrupte Regierungen stützen sollen. Seine Erfahrungen aus Südamerika zeigen, dass jahrzehntelange Kriege alle Seiten deformieren. Militärische Gewalt ist kein zeitgemäßes Mittel für Konfliktlösungen mehr; nötig sind Bündnisse und der Druck, der von Massen ausgehen kann. Hans-Jürgen Hinzer benannte Massenstreiks als eine friedliche Waffe. Betont wurde, dass für eine Aussöhnung in Afghanistan alle Parteien der Auseinandersetzungen an einen Tisch gehören, auch wenn sie nicht jedem gefallen. Hier zeigte sich auch die Kompetenz der Kongressteilnehmer außerhalb des Podiums: In der Diskussion sprachen auch Menschen, die zum Thema Afghanistan politisch beratend tätig waren oder in Afghanistan an verschiedenen Projekten mitgewirkt haben. Vor allem wurde das Argument entkräftet, nach einem Abzug der Truppen würde in Afghanistan das Chaos ausbrechen; deutlich wurde, dass das Chaos jetzt existiert und ein Truppenabzug die Bedingung dafür ist, dass eine andere Entwicklung eingeleitet werden kann. Als möglicher Vermittler im Konflikt wurde der Iran genannt. Er ist durch die Drogentransporte durch sein Gebiet stark affiziert; 3000 iranische Polizei- und Zollbeamte sind an den Grenzen bereits zu Tode gekommen. Auch unter diesem Aspekt würde ein Angriff auf den Iran die Region weiter destabilisieren. Schließlich wurde, mit Blick auf die fortschreitende Beschneidung der Grundrechte in der BRD unter dem Vorwand der Terrorismusgefahr, zu bedenken gegeben, dass ein Abzug der deutschen Truppen auch der demokratischen Entwicklung hierzulande nutzen wird. Die weitere Militarisierung der BRD-Jugend im Kontext des Afghanistaneinsatzes wird nicht erst seit heute beklagt. Auf dem Abschlussplenum, explizit benannt mit dem Motto des Kongresses und der Petition der Friedensbewegung an den Deutschen Bundestag, "Dem Frieden eine Chance - Truppen raus aus Afghanistan", sprachen Prominente der Friedensbewegung und Partner, darunter wieder Gewerkschafts- und ein Kirchenvertreter. Vera Morgenstern von der ver.di-Bundesverwaltung stellte die Beschlüsse ihres Gewerkschaftstages zum Thema Krieg und Frieden vor. Horst Schmitthenner von der IG Metall/Verbindungsbüro zu den sozialen Bewegungen unterstrich, einer gemeinsamen Mobilisierung zu den Aktionen der Friedensbewegung im Herbst stehe nichts im Wege. Hermann de Boer, Superintendent des Kirchenkreises Ronnenberg, vertrat die Auffassungen der Kirche und wurde seitens der Teilnehmer im Saal auch mit Kritik an der Friedensdenkschrift der evangelischen Kirche vom Oktober 2007 konfrontiert. Betont wurde, dass das Ziel des Truppenabzugs noch viel breiter und intensiver vermittelt werden muss. Auch Intellektuelle, sonst den Anliegen der Friedensbewegung aufgeschlossen, haben sich zu großen Teilen von der offiziellen Argumentation für den Militäreinsatz blenden lassen. Alles das fand in der üblichen Kongressatmosphäre statt, die neben den geplanten Programmpunkten auch immer noch Platz für Gespräche, mindestens mit dem Sitznachbarn, und für unerwartete Statements ließ; so erfuhren die Teilnehmer zum Beispiel von der Absicht der Londoner Aktivisten, einem Aufruf von Intellektuellen folgend Bush bei seinem bevorstehenden Besuch in London symbolisch zu verhaften. Interessant waren auch die Auftritte der Hannoveraner Friedensbewegung: Der nahe gelegene Flughafen Wunstorf wird für den Militärtransporter A400M ausgebaut. In Hannover selbst ist die 1. Panzerdivision stationiert, die den Eingreifkräften der Bundeswehr zugeordnet ist und große Kontingente in Auslandseinsätze schickt, darunter für die NATO Response Force und die Battlegroups der EU. Mit ihrem Adventsgottesdienst in der Hannoveraner Marktkirche und ihrem Sommerbiwak im Stadtpark mit 6500 geladenen Gästen zelebriert sie jährlich den angestrebten Schulterschluss zwischen Bundeswehr, Wirtschaft und Bevölkerung. Die Hannoveraner Antimilitaristen sind seit einiger Zeit in einem breiteren Bündnis und verstärkt gegen diese Veranstaltungen aktiv. Zurzeit sammeln sie Unterschriften gegen die Demontierung der so genannten Friedenssteine in Hannover und haben hoffentlich auch etliche von den Kongressteilnehmern bekommen. Gedanken zum Fazit, Zitate, Materialien, Links: Im unmittelbaren Vorfeld der Konferenz wurde mit seinen internationalen Teilnehmern ein Friedensnetzwerk gegründet. In der Bundesrepublik wird am 20. September 2008, gleichzeitig in Berlin und Stuttgart, eine Großdemonstration für den Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan stattfinden. Die aktive Beteiligung der Gewerkschaftsvertreter am Kongress gab zu Optimismus Anlass. Wenn es gelingt, an diesem aktuellen Gegenstand, Afghanistan, innergewerkschaftliche Diskussionen über Friedenspolitik wieder zu aktivieren, dann ist, so wurde auf dem Kongress betont, auch ein wichtiger Schritt zur Wiederzusammenführung von Arbeiterbewegung und Gewerkschaftsbewegung getan. Einer der Hauptgedanken, die ich persönlich von diesem Kongress mitgenommen habe, ist, dass es vor allem darauf ankommt, die demokratischen Kräfte in Afghanistan selbst zu stärken. Ein "armes Land" ist Afghanistan in Folge der dreißigjährigen Invasionen der jüngsten Vergangenheit. Afghanistan braucht den Truppenabzug dringend; es kann dann selbst konstruktiv tätig werden. Hier noch einige Zitate vom Kongress (nach bestem Können wörtlich aufgeschrieben; Korrekturen sind willkommen): . "Belgien hat größere ethnische Konflikte als Afghanistan." (Jan Myrdal, Schweden) . "Schwedische Politiker wollen afghanische Frauen befreien ... Mit den Erfahrungen der schwedischen Frauenbefreiung sollte man Hamburg okkupieren." (Jan Myrdal, Schwede . "Zieht die ausländischen Truppen ab, lasst uns mit zwei Gegnern (den Taliban und der Nordallianz) allein - dann haben wir schon einmal 40 Gegner weniger!" (Zoya, Afghanistan) . "Afghanistan ist ein armes Land. Das Einzige, was es anzubieten hat, ist seine geostrategische Bedeutung." (Matin Baraki, Afghanistan/BRD) . "Zivil-militärische Zusammenarbeit heißt: Das Zivile wird militarisiert - nicht das Militärische zivilisiert." (Wolfgang Gehrcke, BRD) . "Truppenabzug: Wenn man in einer Sackgasse ist, muss man sich rückwärts bewegen, um herauszukommen." (Wolfgang Gehrcke, BRD)
Link zur Homepage des Kongresses: http://www.afghanistan-kongress.de Abschlussdokumente des Kongresses, darunter die Information über die Demonstration am 20. September, im Anhang; dürfen gern weiterverbreitet werden! Link zur gemeinsamen deutsch-französischen Erklärung zum NATO-Gipfel 2009 "60 Jahre NATO sind 60 Jahre zuviel" - Deutsch-französische Erklärung zur Vorbereitung eines Gegengipfels der Friedensbewegung: http://www.uni-kassel.de/fb5/frieden/themen/NATO/NATO-dt.-frz.pdf Links zu Medienberichten: http://www.haz.de/newsroom/politik/zentral/politik/deutschland/art667,612036 http://www.jungewelt.de/2008/06-09/059.php http://www.jungewelt.de/2008/06-09/061.php http://www.neues-deutschland.de/artikel/130042.nato-steht-oder-faellt-mit-afghanistan.html http://www.neues-deutschland.de/dossiers/32.html
Cornelia Mannewitz, Rostocker Friedensbündnis
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